Die politische Debatte: ein Sonderfall

Freie Meinungsäusserung in der politischen Debatte

Bei der Interpretation von Artikel 261bis StGB in politischen Debatten sind besonders die Meinungs- und die Meinungsäusserungsfreiheit zu berücksichtigen (Art. 16 BV undArt. 10 EMRK). In einer Demokratie ist es unabdingbar, seine Standpunkte vertreten zu können, selbst wenn diese einer Mehrheit missfallen und für viele Personen stossend sind. Kritik muss also in einem gewissen Masse erlaubt sein.

In einer Demokratie muss es möglich sein, das Verhalten bestimmter Gruppen von Menschen zu kritisieren. Demnach kann nicht immer ein Verstoss gegen Artikel 261bis Abs. 4 StGB erkannt werden. Der Tatbestand ist nicht jedes Mal erfüllt, wenn eine negative Äusserung über eine durch diese Rechtsnorm geschützte Gruppefällt. Dies gilt, solange die Kritik insgesamt objektiv bleibt und aus ebensolchen Gründen erfolgt. So gilt es, Aussagen im Rahmen einer politischen Debatte nicht allzu restriktiv zu interpretieren und sie stattdessen im Gesamtkontext zu beurteilen.

 

Politiker ruft zu Hass und Intoleranz auf

Das Teilen eines Artikels über die Erschiessung eines Mannes in einer Moschee auf Twitter und Facebook mit dem Kommentar «On en redemande!» («Mehr davon!») erfüllt den Tatbestand der Rassendiskriminierung im Sinne von Art. 261bis Abs. 1StGB. Es ist allgemein bekannt, dass in den sozialen Netzwerken schnell und spontan kommuniziert wird. In diesem Zusammenhang ist die Wirkung der sichtbaren Elemente, namentlich jene von Titel, Untertitel und Bild eines Beitrags auf nicht informierte Leser/innen zu berücksichtigen. Umso mehr als damit zurechnen ist, dass die Leser/innen des Beitrags nicht unbedingt den geteilten Artikel lesen werden. Es steht deshalb fest, dass der Kommentar «Mehr davon!» neben der Information über ein blutiges Tötungsdelikt, das sich in einer muslimischen Kultstätte abgespielt hat, von nicht informierten Leserinnen und Lesern wörtlich verstanden würde, das heisst als Aufruf zur Tötung von Musliminnen und Muslimen oder zumindest als Ausdruck der Freude über ein tragisches Ereignis und als Wunsch nach seiner Wiederholung. Die Tatsache, dass sich eine Person über ein Unglück freut, das den Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft zustösst, erfüllt für sich allein den Tatbestand der Rassendiskriminierung und des Aufrufs zu Hass. Ein solcher Post ist zudem nicht im Kontext einer politischen Debatte zu sehen, weil es zum Zeitpunkt der Ereignisse in der Schweiz keine entsprechende politische Debatte gab. Dessen ungeachtet widerspiegelt der Kommentar «Mehr davon!» zum betreffenden Artikel Hass und Verachtung gegenüber Musliminnen und Muslimen. «Indem er dies tat, überschritt der Beschwerdeführer die Grenze zu einem Bereich, in dem der politische Diskurs degeneriert und in Aufruf zu Hass und Intoleranz umkippt und in dem das öffentliche Interesse an der freien Meinungsäusserung in einer Demokratie hinter den Schutz der Menschenwürde zurückstehen muss» (Übersetzung des kommentierten Urteils, E. 2.3.7)

Urteil 6B_644/2020des Bundesgerichts vom 14. Oktober 2020, Strafrechtliche Abteilung

Siehe auch Kommentar von humanrights.ch zu diesem Urteil (nur auf Französisch)
 

Volksabstimmung - Inseratkampagne

Das Bundesgericht hat in einem Urteil vom 13. April 2017 entschieden, dass eine Inseratkampagne imRahmen einer Volksabstimmung unter dem Blickwinkel eines unbefangenen Durchschnittslesers analysiert werden müsse.

Urteil des Bundesgerichts 6B_610/2016

Folglich ist ein Inserat, das für einen Durchschnittsleser das Verhalten einer ethnischen Gruppe verallgemeinert, indem es sie als gewaltbereiter und krimineller als andere erscheinen lässt, eine Herabsetzung der Gruppe. Die Vermittlung des Eindrucks,dass die Mitglieder einer Gruppe (in diesem Fall die Kosovaren) generell gewaltbereiter und krimineller seien, begünstigt ein feindliches Klima gegenüber den Kosovaren und bekräftigt oder unterstützt das Gefühl, dass diese in der Schweiz nicht willkommen sind. Die Schaffung eines solchen feindlichen Klimas durch eine Inseratkampagne, auch im Rahmen einer politischen Debatte, stellt einen Aufruf zur Diskriminierung gemäss Artikel 261 bis Abs. 1 StGB dar. Es reicht aus, wenn damit Emotionen geschürt werden, auch ohne explizite Aufforderung zu Diskriminierung oder Hass.

DieserEntscheid des BG schränkt eine bisher sehr grosse Meinungsäusserungsfreiheit inder politischen Debatte ein.

In den folgenden beiden Bundesgerichtsentscheiden wurde die Meinungsäusserungs­freiheit stärker gewichtet als die Verletzung von Artikel 261bis Abs. 4 StGB: BGE 131 IV 23 und Bundesgerichtsentscheid 6B_664/2008 vom 27. April 2009.

 

Kantonale Beschlüsse

Aufkantonaler Ebene wurden die folgenden Handlungen als diskriminierend beurteilt

  • Rassistische Slogans auf der Website einer politischen Partei (2013-004N).
  • Aufruf in einem Parteiblatt mit Argumenten, weshalb man Personen muslimischen Glaubens nicht einbürgern solle (2011-008N).
  • Herabsetzende Äusserungen gegen Ausländer_innen auf einer Parteiwebsite und Links zu Websites mit rassistischen Inhalten (2009-021N).

 

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